Ausgewähltes Interview zum Buch: https://www.youtube.com/live/CzEBLYOeXXQ?si=TBWS_Z1R1XeEQUIv
Autorin: https://de.wikipedia.org/wiki/Maja_G%C3%B6pel#
Sie widmet sich in der Antwort den Werten Sicherheit, Freiheit und Wohlstand, und diskutiert diese Werte innerhalb der Demokratie, die sie mit den Begriffen Transparenz und Chancen-gleichheit auflädt. In fünf kurzen Kapiteln versucht sie zu zeigen, dass es möglich ist, ins gemeinsame Handeln zu finden und greift zentral das Problem der gesellschaftlichen Spaltung – insbesondere in der politischen Arena - auf, das notwendige Maßnahmen in einer Situation der multiplen Krisen blockiert.
In gewisser Weise spiegelt sie damit zeitversetzt die Erörterungen ihres fachlichen Kollegen Francis Fukuyama wider, der bereits vor 25 Jahren für die USA in seinem Buch The Great Disruption ein Bild der Spaltung und des Niedergangs schilderte, dessen Grund er im Korrodieren von sozialem Kapital und damit in letzter Instanz gegenseitigem Vertrauen fand.
Der Historiker Niall Ferguson stellte eine ähnliche Forschungsfrage in seinem Buch Civilization: The West and the Rest. Warum konnte das zurückgebliebene Europa in der Neuzeit beinahe die ganze Welt unterwerfen und zu einer führenden Zivilisation werden? Seine Antwort sind 6 Killer Apps, die an der Schnittstelle zwischen Werten, Institutionen und Infrastuktur liegen.
Auch der amerikanische Journalist Ezra Klein widmete sich 2020 der gesellschaftlichen Spaltung in Why we are polarized, kommt aber ähnlich wie Ferguson zum Schluss, dass nicht nur gemeinsame Werte, sondern vor allem Institutionen, die unterschiedliche Werte produktiv verbinden, die Grundlage eines funktionierenden Staates sind.
Das Strukturmodell menschlicher Werte (vgl. Schwartz, 1992) erschöpft sich allerdings nicht darin, die Vielzahl menschlicher Werte zehn einander ergänzenden Wertetypen zuzuordnen; vielmehr können diese von ihm auch als Grundwerte bezeichneten Wertetypen auf einer allgemeineren Ebene zu vier Werten höherer Ordnung zusammengefasst werden.
Sie bilden dann eine zweidimensionale Wertestruktur, in der sich Selbsttranszendenz (Universalismus und Benevolenz) und Selbsterhöhung (Macht und Leistung) gegenüberliegen und ebenso Wahrung des Bestehenden (Konformität, Tradition und Sicherheit) und Offenheit für Neues (Stimulation und Selbstbestimmung). Hedonismus ist in dieser Struktur ein Grenzfall, der nach Schwartz sowohl Gemeinsamkeiten mit Selbsterhöhung als auch mit Offenheit aufweist.
Anmerkungen zu den fünf Kapiteln
In der Frage zur Verteilung von Wohlstand und der Einführung Grundeinkommen läßt Göpel erkennen, dass es Maßnahmen und Infrastruktur bedarf, um den Beitrag der Bürger nicht nur zu erwarten, sondern auch einfordern zu können: „Ich habe das Gefühl, dass wir uns auf der linken Seite etwas vormachen. Dass dann alle zufällig etwas für die Republik tun würden, wenn sie den Freiraum hätten, weil sie sich um keine finanzielle Versorgung kümmern müssen, das halte ich für eine steile These.“
Um Kooperation zu beschreiben, arbeitet sie mit den Begriffen checkin – checkout. Checkin für Beteiligung und Solidarität, checkout für Apathie und Rücksichtslosigkeit. Göpel ist der der Meinung, dass wir jetzt den checkin brauchen – jeder muss bereit sein, etwas beizutragen, damit der Laden hier wieder läuft. Damit gibt sie wieder, was der Philosoph David Richard Precht in seinem Buch Von der Pflicht anlässlich der Covid-19 Pandemie verlangt hat.
Buchentstehung
Zu Göpels Biographie ist anzumerken, dass sie in sehr privilegierten Verhältnissen aufgewachsen ist. Als einziges Kind einer Medizinerin und eines Gesundheits-wissenschafters verbrachte sie ihre Kindheit in einer ökologischen Hausgemeinschaft in der Nähe von Bielefeld. Man darf mutmaßen, dass das Versagen des Gesundheitssystem iSv Spezialintervention im Falle von Krankheit eines Individuums ein tägliches Thema am Abendtisch gewesen sein muss, und sich Göpel wohl aufgrund dieser Prägung einen soziologischen Zugang zum Thema Gesundheit angeeignet hat: wie muß eine Gesellschaft aufgestellt sein, damit Krankheit erst gar nicht entsteht?
Göpel promovierte in politischer Ideengeschichte, womit sie beim Schreiben eines Buches ähnlich wie Jared Diamond oder Yuval Harari eine „longitudinal perspective“ einnimmt. Anstatt Begriffe als statisch einzuordnen, hinterfragt sie deren Entstehung und Veränderung. So gibt sie sich irritiert, wenn Begriffe wie soziale Marktwirtschaft verwendet werden, und sich alle in diesem Begriff verorten, aber nicht für sich geklärt haben, was damit gemeint ist.
Die Schöpfer der sozialen Marktwirtschaft würden heute laut Göpel alle sagen: „Habt ihr noch alle Latten am Zaun, dass ihr die Techkonzerne so gerieren lässt und sie dann noch als Unternehmen bezeichnet, die angeblich in einem Markt stehen.“ Techkonzerne haben ihr zu folge Monopolstrukturen entworfen und führen eine Planwirtschaft in Konzernhänden.
Design als Lösungsinstrument und China als Vorbild
Das Buch erinnert stark an die Schriften des holländischen Historikers Rutger Bregman, der mit Utopia for Realists und Humankind: A hopeful history ähnliche Überlegungen anstellt wie Göpel. Es unterscheidet sich jedoch von Bregman, indem Göpel implizit als Politikwissenschafterin Elemente des chinesischen politischen Systems für „westliche Demokratien“ fordert:
- Lagerübergreifendes Handeln ist die Essenz des chinesischen Einparteinstaates
- Effektive Bürokratie wird in China durch starke Digitalisierung zB über alipay und wechat ermöglicht
- Langfristige Ziele werden durch die Kontinuität der Regierung und wiederkehrende Fünfjahrespläne erfolgreich verfolgt
- politischer Pragmatismus: die in den USA Ende des 19 JH ersonnene Philosophie wird unter einigen Sinologen als Fundament des wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas gesehen.
Kritik UND anregungen
Der überbordende Rechtsstaat hat den homo faber im Westen - vielleicht in der Angst er könnte zum verrückten Erfinder Rotwang wie in Fritz Langs Metropolis werden – wohl aber eher weil die an der Macht sitzenden Eliten keine Veränderung des Status Quo wollen - erstickt. Der Ingenieursstaat hingegen bleibt im Handeln und ordnet Bürokratie und Prozesse einem Gesamtziel unter. So bleibt er agil und erspart sich lähmende Begutachtungen und demokratische grassroot Querelen. Er ist im Idealfall von einer Vision (wie dem China Dream) getragen, die der Gesellschaft Fortschritt nicht nur verspricht, sondern auch liefert.
As the saying goes: culture eats strategy for breaktfast. Die 16 sozialistischen Kernwerte, die die KPC seit Xi Jinpings Machtübernahme predigt, sind analog zu Göpels Werten der moralische Unterbau, der dieses gesellschaftspolitische System trägt. Dazu im Detail bei Dan Wangs neuem Buch Breakneck und Ian Johnsons The Souls of China.
Der renommierte Sinologe Oskar Weggel schrieb im Jahr 1997 über eine Zukunft mit 12 Milliarden Menschen, eng gewordenen Räumen und knappen Rohstoffen: in einer solchen Umgebung muß die Verherrlichung des Individuums, wie sie sich in der neuzeitlichen Philosophie – und in den westlichen Industriestaaten – durchgesetzt hat, durchaus als „Luxusschöpfung“ erscheinen, die weder der Menschheitsgeschichte insgesamt noch den Perspektiven eines „posteuropäischen“ Zeitalters angemessen ist.
Der klassische Konfuzianismus war ein Kind der Not – und erteilte als solches Antworten auf die Frage, wie Verteilungskämpfe unblutig gelöst und wie Formen dichten Zusammenrückens möglichst konfliktfrei gestaltet werden können. Im Zeichen abnehmender Optionen und zunehmender Beengung könnte er sich erneut als Zuflucht und Ratgeber erweisen! Globalisierung würde sich dann andersrum, nämlich von Ost nach West entfalten!
Im Sinne von Weggel muss in einer Zeit der begrenzten Ressourcen und der wachsenden Bevölkerung notwendiges Verhalten eingefordert werden – von allen Mitgliedern der Gesellschaft. Dieses Einfordern bedarf eines transparenten und fairen Systems, welches in der Form von distributed value accounting (DVA) möglich ist. Dabei geht es nicht um die in Europa so gefürchtete Überwachung der Privatsphäre, sondern um das Sichtbarmachen von Solidarität – also dem von Göpel geforderten checkin, der unbezahlter Vereinsarbeit, das buchhalterische Erfassen von Pflege- und Elternzeiten, das Erlernen von Nachhaltigkeitskompetenzen, also all jene Dienste an der Gesellschaft, die soziales und ökologisches Kapital schaffen bzw erhalten, aber am kapitalistischen Markt nicht bewertet werden.
Ein derartiges System macht jedes Mitglied einer Gesellschaft zu einem kleinen Motor, um die Gesellschaft als Ganzes in eine neue Richtung zu steuern. Es schafft Fairness, ermöglicht Chancengleichheit, und holt die von Göpel erwähnten 70% der Gesellschaft ab, die „das Richtige machen würden, wenn sie nicht Angst hätten, dass es die anderen nicht tun.“ Ähnlich wie airbnb schafft DVA mit Hilfe einer digitalen Prothese Vertrauen zwischen Menschen, wo zuvor kein Vertrauen war, und ermöglicht unerwünschtes Verhalten aufzuzeigen ohne die negativen Folgen von Verrat und Vertrauensbruch, mit denen totalitäre Gesellschaften gekennzeichnet waren.
Soziale Innovation bedarf nicht nur der richtigen Werte. Diese können bestenfalls die Grundlage für eine ausformulierte Vision sein. Um eine Vision wirksam werden zu lassen, ist es notwendig über neue Organisationsformen, notwendige Technologien, die gelungenes Design nachzudenken. Den richtigen Zeitpunkt haben wir schon verpasst. Aber wie Viktor Hugo einst sagte: Keine Armee kann einer Idee Einhalt gebieten, deren Zeit gekommen ist.
Wenn Europa eine Person wäre, dann müsste ich doch jetzt losstürmen und für sie kämpfen. Für meine Heldin, die mir 70 Jahre Frieden verschafft hat. — Klaus Maria Brandauer
Wir müssen in Europa den Mut haben, nicht nur über Werte nachzudenken, sondern Mechanismen auszuprobieren, die die Umsetzung dieser Werte ermöglichen. Wenn Anomie, also Wertverlust und der Zerfall der Gesellschaft als negatives Szenario warnt, dann muss mit pragmatischen Lösungen entgegengesteuert werden. Gerade die relative administrative Eigenständigkeit von Ländern und Kommunen, die sich in den Folgestaaten des Römischen Reiches dt. Nation erhalten hat, macht es einfacher als in zentralistisch geformten Staaten mit DVA auf unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung zu experimentieren und den checkin digital einzufordern.
- Was sind Werte? https://www.values-academy.de/was-sind-werte/
- Strukturmodell menschlicher Werte nach Schwartz: https://www.researchgate.net/publication/317266853_Psychologische_Arbeiten_zur_Struktur_menschlicher_Werte
- Anomie nach Durkheim: https://soztheo.de/kriminalitaetstheorien/anomie-druck-theorien/anomiebegriff-durkheim/
- Zu Nial Fergusons Konzept von Killer Apps: https://www.mingong.org/blog-en/the-anatomy-of-democratic-destructiveness
- David Richard Precht, Von der Pflicht: https://www.goodreads.com/book/show/57557177-von-der-pflicht
- Sobriete nach Jean Marc Jancovici: https://www.youtube.com/watch?v=59WB0im3lLg
- Wechat and good governance 2.0: http://www.mycountryandmypeople.org/01-blog-2133823458/-wechat-governance-20-good-wechat-governance
- A lucid manual for transformation: https://www.mingong.org/blog-en/a-lucid-manual-for-transformation-by-architect-friedrich-von-borries
- Architekt Friedrich von Boerris erklärt die permanente Transformation: https://www.mingong.org/blog-en/book-review-design-theorist-friedrich-von-borries-on-how-to-project-the-world
- The Great Disruption: Human Nature and the Reconstitution of Social Order by Francis Fukuyama: https://www.darkmatteressay.org/the-great-disruption-by-francis-fukuyama.html
- On Spheres of Justice and Agile Democracies: https://www.mingong.org/blog-en/on-failing-democracies-and-spheres-of-justice
- Isaac Asimov on overpopulation, technology and the decline of democracy: https://www.mingong.org/blog-en/overpopulation-technology-and-the-decline-of-democracy
- Metropolis (1927) and its current relevance: https://www.mingong.org/blog-en/film-review-metropolis-1927-and-its-current-relevance
- Breakneck: China’s quest to engineer the future: https://danwang.co/breakneck/
- Ian Johnson: The Souls of China: http://www.mycountryandmypeople.org/20-20215205402345920256-value-propaganda.html
- Oskar Weggel, China im Aufbruch: Konfuzianismus und politische Zukunft: https://www.greensteps.me/library/wie-man-aus-kindern-piraten-macht.php
- Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der Diktatur: Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert: https://www.goodreads.com/book/show/45884677
- Distributed Ledger Technologies, Value Accounting, and the Self Sovereign Identity: https://www.frontiersin.org/journals/blockchain/articles/10.3389/fbloc.2020.00029/full
- https://www.researchgate.net/publication/355395623_White_Paper_-_version_03


































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